1995 gründeten in Argentinien die inzwischen erwachsenen Kinder von Verschwundenen, Exilierten, politischen Gefangenen und Ermordeten der Militärdiktaturen der 70er Jahre in Lateinamerika die Organisation H.I.J.O.S. - "Söhne und Töchter für Identität und Gerechtigkeit gegen das Vergessen und Schweigen". ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Lateinamerika.
Wofür steht H.I.J.O.S.?
H.I.J.O.S. will den Kampf ihrer Väter, Mütter und Freunde für eine gerechtere und solidarischere Welt wiederaufnehmen und fortführen. Ihr erklärtes Ziel ist die Wiederherstellung der Identität der Kinder von Verschwundenen und Ermordeten, die während der Militärdiktatur von ihren Eltern getrennt wurden und bis heute ihre wahre Herkunft gar nicht kennen. Sie waren Säuglinge, Kleinkinder oder noch nicht geboren, als ihre Eltern verhaftet wurden. Viele von ihnen wurden nach dem Tod oder dem Verschwinden ihrer Eltern den Militärs oder regimetreuen Anhängern zur Adoption übergeben.
Wesentliche Ziele der Arbeit von H.I.J.O.S. sind die Verurteilung und gerechte Bestrafung der am Völkermord unter lateinamerikanischen Diktaturen Beteiligten und deren Komplizen sowie die Zerschlagung des Unterdrückungsapparats durch die Amtsenthebung all jener, die in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren. Von Anfang an arbeiteten sie dabei mit bereits bestehenden Organisationen wie den Madres de Plaza de Mayo zusammen, die dasselbe Ziel verfolgen, entwickeln aber auch eine eigene Strategien.
Sie führen Demonstrationen durch und veranstalten große Versammlungen an den Wohn-, Arbeits- und Freizeitorten derer, die sich des Mordes und Verschwindenlassens von Tausenden schuldig gemacht haben, um den Anwohnerinnen und Anwohnern deutlich zu machen, dass unter ihnen ein Schuldiger lebt. Diese Methode entwickelten sie bereits zur Zeit der Straflosigkeit, als es noch keine andere Möglichkeit gab, die Schuldigen zu „verurteilen“, als durch die öffentliche Anklage der Bürger und Bürgerinnen.
Wichtige Schritte - wichtige Partner_innen
Ein wichtiger Schritt hin zur Einleitung der Gerichtsprozesse waren die „Wahrheitsprozesse“ aus dem Jahr 2000. Dabei handelte es sich nicht um legale Gerichtsprozesse, sondern um die Berichte von Zeitzeugen über ihre Gefangenschaft. Diese Zeugenaussagen waren der Schlüssel zu späteren Urteilen, da auf diese Weise zukünftige Anklagen vorbereitet werden konnten.
H.I.J.O.S arbeitet mit Mitgliedern in Barcelona und Madrid zusammen, die in Europa Mittäter oder Komplizen des Völkermordes ausfindig machen, die Argentinien nach der Militärdiktatur verlassen haben. Die europäischen Mitglieder unterstützen die Organisation auch bei der Suche nach Kindern von Verschwundenen, die in Europa leben, ohne bis heute ihre wahre Identität und somit ihre leiblichen Eltern zu kennen. Darüber hinaus unterstützen sie - in Zusammenarbeit mit berühmten Persönlichkeiten aus Argentinien und Europa - die Gerichtsurteile mit Kampagnen.
Der Zusammenschluss der Madres de Plaza de Mayo bildet den Ausgangspunkt der Menschenrechtsbewegung in Argentinien. Sie waren eine Gruppe von verzweifelten Müttern auf der Suche nach ihren “verschwundenen” Töchtern und Söhnen, über deren Verbleib die Junta keinerlei Informationen herausgab. Mit ihrem öffentlichen Auftreten verschafften sie den Verschwundenen Sichtbarkeit und boten der Militärdiktatur die Stirn. Das Wort des Militärchefs Jorge Videla vom „Verschwundenen“, der „einfach ein Verschwundener, ein Niemand“ ist, galt nicht länger.
Die Madres nahmen ihre Arbeit während der Diktatur auf, einige ohne jegliche politische Vorbildung oder genaue Kenntnis darüber, was in dem Land vor sich ging und warum ihre Kinder nicht mehr da waren. Mit ihren wöchentlichen Demonstrationen auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires stießen sie auf große internationale Resonanz. Im Laufe der Zeit dehnten sie ihre Arbeit auch auf weitere Menschenrechtsthemen aus. Kurze Zeit später schlossen sich den Madres (Müttern) die Abuelas (Großmütter) an, deren Ziel die Suche nach ihren während des Militärregimes verschwundenen Enkeln und Enkelinnen war. Sie formierten sich, als sie erfuhren, dass ihre Töchter oder Schwiegertöchter als Schwangere oder gemeinsam mit ihren kleinen Kindern verhaftet worden waren.
Der weite Weg zu den Prozessen
Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen bereits während der Diktatur und danach schuf die Grundlage für die Wiederaufnahme der Prozesse in der Gegenwart. Die Bürgerinnen und Bürger organisierten zum 20. Jahrestag des Militärputsches am 24. März 1996 eine Massenkundgebung und forderten Gerechtigkeit. Sie machten deutlich, dass die Strafverfolgung Aufgabe des Staates ist. Die Abschaffung der Gesetze zur Straflosigkeit und die Aufnahme der Strafprozesse heute kennzeichnen historische Momente auf diesem Weg.
Neben den Aktionen der Menschenrechtsorganisationen nehmen die Zeitzeugnisse von Opfern und Angehörigen der “Verschwundenen” eine Schlüsselrolle ein. Nach vielen Jahren des Schweigens sind sie wichtig für die Aufarbeitung der Vergangenheit.
Vielfach brechen die Angehörigen erstmals im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozess ihr Schweigen und reden über das Erlebte. Aus diesem Grund markieren die Hoffnungen, die mit den Gerichtsprozessen verbunden sind, den Beginn eines Heilungsprozesses und die Möglichkeit des Wiederaufbaus von Vertrauen in das Justizsystem.
Für die Töchter und Söhne, die in H.I.J.O.S. organisiert sind, bedeuten solche Zeugnisse das Wiedererlangen ihrer Identität und die Rekonstruktion ihrer Vergangenheit. Dieses neue Wissen erleben sie als Befreiung. So wie die Zeitzeugen es als Befreiung erlebten, endlich über ihre Vergangenheit reden zu können, müssen die Kinder die Persönlichkeiten und wahren Lebensumstände ihrer “verschwundenen” Eltern kennen lernen. Die Arbeit von H.I.J.O.S., die im Rahmen der Prozesse Zeuginnen und Zeugen begleiten, ist deshalb so besonders wichtig, weil es weder ein Zeugenschutzprogramm noch eine psychologische Zeugenbetreuung gibt.
H.I.J.O.S. wird unermüdlich weiterarbeiten
Die Gerichtsverfahren alleine reichen nicht aus, die Wunden zu heilen. Aber es ist wichtig, dass der Staat seine Verantwortung anerkennt und Schadensersatz leistet, auch wenn es nie eine vollständige Wiedergutmachung geben kann.
Für die Angehörigen der “Verschwundenen” ist ein harter, aber unabdingbarer erster Schritt, Kenntnis über den Verbleib der sterblichen Überreste zu erlangen, zu wissen, wie ihre Verwandten in Gefangenschaft gelebt haben und auf welche Weise sie umgekommen sind. Dann erst kann der eigentliche Heilungsprozess beginnen.
Die Gerichtsprozesse sind sehr langwierig. Es ist zu befürchten, dass sie nach den nächsten Wahlen nicht weitergeführt werden, da es bisher an einer Reform fehlt, die eine Fortsetzung zulässt. So könnten viele der Verantwortlichen straffrei ausgehen.
Zurzeit ist H.I.J.O.S. eine der aktivsten Menschenrechtsorganisationen bei den Gerichtsprozessen. Sie werden diese Arbeit so lange weiterführen, wie die Urteile ungerecht und unangemessen ausfallen und somit ungeeignet bleiben, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und die offenen Wunden einer der blutigsten Diktaturen Lateinamerikas zu heilen.
Paloma de la Paz Montes Araya
Paloma de la Paz Montes Araya ist eine 28-jährige Sozialarbeiterin. Sie ist Tochter chilenischer Eltern, die aufgrund der Militärdiktatur (1973-1989) aus ihrem Heimatland ausgewandert sind. Die Familie ihres Vaters wurde politisch verfolgt. Familienangehörigen gerieten in Gefangenschaft, wurden gefoltert und verschleppt.
Ein Grund ihrer engen Verbindung zu Argentinien geht auf ihre Tante Cristina Carreno Araya zurück. Diese wurde 1978 im Rahmen der Operation Condor nach Argentinien verschleppt. Erst kürzlich konnten ihre menschlichen Überreste an ihre Familie überführt und bei ihren Angehörigen beigesetzt werden.
Es wird vermutet, dass Cristina im Juli 1978 von Agenten der DINA (ehemalige chilenische Geheimpolizei) gefangen genommen und kurz darauf an die argentinische Polizei übergeben worden ist. Sie wurde in den Geheimgefängnissen „El Banco“ und „Garaje Olimpo“ gefangen gehalten. In letzterem verbrachte sie 5 Monate. In dieser Zeit war sie verschiedenen Folterungen ausgesetzt, ausgeführt von Julio Simón, auch bekannt als „Turco Julián“. Sie starb vermutlich im Dezember 1978. Ihr Körper wurde nahe der Mündung des Rio Plata in das Meer geworfen und später zusammen mit anderen Leichen an einen Strand geschwemmt. Dort wurden sie auf dem nächstgelegenen Friedhof in einem Massengrab beigesetzt.
Im Mai 2006 wurde der Familie der Fund der sterblichen Überreste ihrer Tante mitgeteilt und damit ein wichtiges Beweisstück für die Existenz der „Operación Condor“ offengelegt.
Paloma de la Paz Montes Araya wurde 2006 Mitglied der Organisation H.I.J.O.S. Nicht nur um Antworten darauf zu finden, was ihrer Familie widerfahren ist, sondern auch um, mit der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit einen Beitrag für die Aufarbeitung der Militärdiktaturen zu leisten: in Argentinien, aber auch ganz Lateinamerika.
Paloma de la Paz Montes Araya ist eine der Referentinnen der Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung "Erinnerungskulturen - Kampf gegen die Straflosigkeit in Argentinien" am 28. September 2010, 18:30.